19 Dez Was ist Liebe? – Teil III: Wie wollen wir lieben?
Dieser Beitrag ist der letzte von drei verschriftlichten Teilen eines Vortrags, den ich am 06. Dezember 2016 für die Bar jeder Sicht, Kultur- und Kommunikationszentrum für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Intersexuelle, in Mainz gehalten habe. Zitieren ist erlaubt, jedoch nur unter Nennung meines vollen Namens und der direkten Verlinkung auf den Beitrag.
Die Selbstverständlichkeit der Liebe
Wie würden Sie den Satz vervollständigen? „Zu einer Beziehung gehört/gehören….“
Eine der größten Schwierigkeiten in Partnerschaften (so erlebe ich es auch in meiner therapeutischen Arbeit immer wieder) ist, dass Menschen implizite, unausgesprochene Beziehungsvorstellungen haben.
„Die meisten Leute entscheiden sich nicht bewusst für Monogamie“, postulierte Oliver Schott in einem seiner spannenden Vorträge zum Thema Polyamorie. Monogamie sei „eine implizite oder explizite Absprache, dass Sex mit Dritten nicht erlaubt ist“.
Monogamie bzw. Monoamorie sind also in unserer Gesellschaft ein weitestgehend unausgesprochenes Beziehungssnormativ und nicht unbedingt Ergebnis bewusster Entscheidungsprozesse.
Das Gleiche gilt für das Thema Sexualität: Es wird auch hier implizit erwartet, dass es sie gibt. Wer sie nicht hat oder will, wird mitunter bemitleidet, pathologisiert oder ausgeschlossen.
Welche Vielfalt und Individualität im Spektrum menschlicher Liebe und Sexualität steckt, können wir kaum in Gänze veranschaulichen. Der Versuch widerspricht in gewissem Maße der Aussage. Dennoch halte ich den Versuch für sinnvoll. Zum Einen, weil bisher eher „unsichtbare“ Bereiche des Spektrum so sichtbar gemacht werden, zum Anderen, weil das Bedürfnis des Menschen nach Orientierung, Kontrolle und Zugehörigkeit ebenfalls legitim ist. Jeder menschliche Versuch der Kategorisierung (von egal was) darf und sollte diskutabel bleiben.
Quelle: http://thenewtonite.com/a-chance-to-speak-members-of-lgbtqa-community-voice-experiences/ 19.12.16
Als Beispiele für die Veranschaulichung der Vielfalt der Liebe nenne ich im Folgenden die Konzepte von Polyamorie und Asexualität – sowohl im Sinne romantischer Präferenz als auch als Form frei gewählter Lebensmodelle. Eine frei gewählte Lebensweise ist nicht zu verwechseln mit sexueller Orientierung, die eben nicht frei wähl- oder veränderbar ist (Vielen Dank hier auch an Frank vom Vorstand der Bar jeder Sicht für diesen wichtigen kritischen Hinweis zum oben abgebildeten Modell).
Polyamorie
Der Begriff beschränkt sich nicht auf mehrere sexuelle Beziehungen, sondern meint mehrere (erotisch-emotionale) Liebesbeziehungen, die frei, gleichberechtigt, transparent und verbindlich gestaltet sind.
Wie genau das gelebt werden kann, kann unterschiedlich ausgelegt werden und hierzu gibt es wieder zahlreiche Begriffsmodelle. Man könnte das Lebensmodell vielleicht als eine Mischung aus den beiden menschlichen Bestrebungen von Autonomie und Bindung betrachten.
Unter dem Gesichtspunkt und dem, was wir über den Begriff der Liebe erfahren haben, könnten sich – theoretisch – die meisten Menschen als polyamor bezeichnen.
Auch beispielsweise Asexualität und Polyamorie müssen sich demnach nicht ausschließen. Wichtig scheint dennoch eine Unterscheidung zu Freundschaft zu sein, und die ist m.E. im Grad der Intimität zu finden, den die Liebenden empfinden oder/und auf individuelle Weise ausleben. Sexuelle Energie, sofern vorhanden, zunächst ohne Reue zu spüren und zuzulassen, ohne sie auf körperlicher Ebene ausleben zu müssen, ist ein Vorschlag von Dominique Zimmermann (Zimmermann/Hofmann 2012: Die andere Beziehung).
Auf der Suche nach prägnanten Definitionen von Polyamorie findet man verschiedene Ansätze und viel Diversität. Allein dies demonstriert den anscheinend freien und individuellen Zugang zu Polyamorie.
Auf der Internetseite www.polyamorie.de findet man folgende Definition:
1. Ehrlichkeit/ Transparenz (Poly ist nicht „Betrügen“)
2. Gleichberechtigung/Konsens (Poly ist nicht patriarchale Polygynie)
3. Langfristige Orientierung (Poly ist nicht Swinging)
„Wenn eine erotische Liebe mit mehr als einem Partner gleichzeitig den oben genannten Kriterien entspricht, wollen wir im Folgenden von Polyamorie sprechen. […] Die angestrebten Beziehungen sind langfristig, vertrauensvoll und schließen normalerweise Sexualität mit ein. Polyamorie ist mehr als Freundschaft, es wird hier, wenn schon nicht vom vollzogenen Geschlechtsakt, doch von einem Austausch sexueller Energie mit mehr als einer Person ausgegangen.“ Quelle: http://polyamorie.de/definition-silvios-poly-buch-online-50.html
Asexualität
Im deutschen Aven – Forum wird auf über 33 Seiten diskutiert, wie die korrekte Definition von Asexualität lauten sollte. Es reicht von
„haben keinerlei sexuelles Verlangen, spüren keinerlei Erregung“ bis zu „können Sex und Intimität genießen, aber verspüren keine sexuelle Anziehung“
über
„Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie keinen Geschlechtsverkehr haben möchten, was zu differenzieren ist von selbstauferlegter Abstinenz oder mangelnder Fähigkeiten oder Möglichkeiten“.
Es gibt ein breites Spektrum asexueller Präferenz. Ich gehe hier nicht vertieft darauf ein, weil die Ausdifferenzierung der Begrifflichkeiten sehr komplex ist.
Wer Interesse an einer Vertiefung hat, kann sich gerne einmal hier (engl.) einlesen, hier (dt.) oder für den schnellen Überblick hier (engl.).
Dass Asexualität existiert, steht außer Frage. Sie ist dringend zu unterscheiden von ungewollter sexueller Unlust, traumabasierter sexueller Störungen oder mangelnder sexueller Aktivität aufgrund von gesundheitlichen Einschränkungen. Asexuelle Menschen können sich verlieben, romantische Gefühle haben und Beziehungen führen.
Erotik, Lustempfinden und sexuelles Verlangen sind entgegen verbreiteter Annahmen höchst individuell und keineswegs bei jedem Menschen gleich oder in gleicher Weise angeboren. Lust und Leidenschaft haben unendlich viel mit der individuellen Persönlichkeit, dem höchst subjektiven Erleben von Körperlichkeit, Nähe und Intimität und persönlichen Erfahrungen zu tun. Sexuelle Lust ist eine so persönliche Sache, dass moderne Sexual- oder Paartherapeut*innen mittlerweile verstärkt dazu übergehen, dies in allererster Linie erst einmal zu respektieren und vor allem dort nichts „heilen“ zu wollen, das keiner Heilung bedarf. Gerade hier ist es fatal, vom Eigenen auf die Allgemeinheit zu schließen.
Ein wunderbares Buch zum Thema sexuelle Lust hat der Paartherapeut David Schnarch geschrieben: Die Psychologie sexueller Leidenschaft.
Kritische Betrachtung
„Eine Reihe unterschiedlicher Befunde belegt, dass unsere Vorfahren zuvor in Gruppen gelebt haben, in denen die meisten Erwachsenen mehrere sexuelle Beziehungen gleichzeitig hatten“ (Ryan/Jethá)
„[Die Frage:]„Bin ich asexuell“ kann nicht nur beobachtbares Sexualverhalten oder dessen Abwesenheit analysieren, sondern muss sich ebenfalls mit der subjektiven Ursachenfrage auseinandersetzen“ (Guido F. Gebauer)
Wenn wir uns auf die Suche nach naturgegebenen menschlichen Bedürfnissen in der Sexualität und Liebe machen, ob nun, um Monogamie, Polyamorie o.ä. zu legitimieren, laufen wir Gefahr, genau in die biologistische Argumentation und Fahrrinne zu geraten, von der wir uns meiner Ansicht nach lösen sollten. Es sollte kein neuer Konservativismus entstehen, um die eigene, individuelle und eigenverantwortlich zu gestaltende Lebensweise in soziale Anpassungsnormative zu pressen.
Wenn wir einer biologischen oder biochemischen Argumentationskette dennoch folgen möchten, können wir erkennen, dass es relativ viele Hinweise darauf gibt, dass Menschen polytrop oder polysexuell sein können, genau wie Menschen asexuell, homosexuell u.s.w. sein können. Weiterhin ist einleuchtend, dass bestimmte Varianten von gelebter Partnerschaft auch immer sehr stark den sozialen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Umständen geschuldet sind.
Der Mensch ist seit jeher ein anpassungsfähiges Wesen. So zeigen sich in verschiedenen Kulturen der Welt auch verschiedene Strukturen des Zusammenlebens, die aus dem eigenen Blickwinkel heraus betrachtet weder zwangsläufig sinnvoll noch nach den eigenen Maßstäben ethisch vertretbar sein müssen. Sie sind jedoch vor dem Hintergrund dortiger Lebenswelten nachvollziehbar. Ganz pragmatisch können der Art und Weise, wie mit der Zeugung von Nachwuchs umgegangen wird, die Versorgungsressourcen der ganzen Gemeinschaft zugrunde liegen und es wird dementsprechend entschieden, in welcher Form Menschen zusammenleben, Sex haben (sollen oder nicht dürfen) u.s.w.
Wir müssen also unterscheiden zwischen sozial oder wirtschaftlich Sinnvollem, (macht-)politisch Gestaltetem und so fort. Wir können das nicht wegdenken oder ausklammern, zumindest nicht in der gelebten Realität, sondern wenn, dann eher als Gedankenspiel.
Zum Glück sind Menschen unterschiedlich, und zwar nicht nur als leere Phrase, sondern als Tatsache, die es verunmöglicht, eine einheitliche Linie oder gar Wahrheit dessen, was unser Ursprung sei, zu finden.
Welche Bedeutung hat Vertrauen in engen Liebesbeziehungen?
„Eine feste Beziehung ist ein Vertrag, der auf gegenseitigem Vertrauen, Respekt, Schutz und Rückhalt basiert. Alles, was diesen Vertrag verletzt, kann eine Form von Untreue sein“ (Gottman 2016: Die Vermessung der Liebe)
In jeder Beziehung geht es um die Erfüllung emotionaler Bedürfnisse. Die allermeisten Affären gehen laut John Gottman daher auch nicht auf sexuelles Verlangen zurück, sondern auf nichterfüllte emotionale Sehnsucht. Wenn eine Person nur über körperliche Intimität emotionale Nähe spüren kann, ist „Fremdgehen“ natürlich wahrscheinlicher; ebenso wie der Verlust von Liebesgefühlen dem anderen gegenüber, der/die Sex nicht geben kann oder will.
Eine große Angst vieler Menschen ist die Angst vorm Alleine sein, dem „Allein klarkommen“ müssen, zurückgelassen und ausgestoßen sein – Die größtmögliche Strafe in manchen Stämmen ist nicht umsonst der Ausschluss statt Einschluss von Stammesmitgliedern. Manchmal ist dies der Grund, warum wir an der Exklusivität der Zweierbeziehung festhalten. Die andere ist die Angst, verschlungen zu werden. Eifersucht in der Liebe hat unter anderem häufig mit dieser erstgenannten Angst vor Ausschluss zu tun; die Bindungsangst eher mit der zweiteren Angst vor dem Verschlungenwerden.
Der Persönlichkeit Raum geben und Verantwortung übernehmen
I want to be an nonconformist like all of my friends..?
Zum „Erwachsen“ Werden gehört meiner Ansicht nach, eine wesentliche Erkenntnis tief in sich einzuatmen, anzunehmen und das eigene Handeln danach auszurichten. Sie lautet:
Menschliche Bedürfnisse enthalten unausräumbare Ambivalenzen.
Erwachsen damit umgehen, hieße dann, sich entscheiden zu müssen. Oder? – Ja. Meiner Ansicht nach ist das so.
Ja. Wir müssen lernen, uns zu entscheiden. Wir können auch durchaus üben, Prioritäten herauszuarbeiten und so in der Lage sein, ein glückliches und zufriedenes Leben mit unseren getroffenen Entscheidungen zu leben. Zum Glück bedeutet dies heute nicht mehr, einmal getroffene Entscheidungen unser gesamtes Leben lang mit uns herumzuschleppen. Wir haben über die Zeit unseres Lebens viele, fast unendlich viele Wahlmöglichkeiten und gerade das macht es ja oft umso schwieriger.
Es kann heißen, abschnittsweise und immer wieder neue Entscheidungen treffen zu müssen. Leider kann uns niemand abnehmen, eine Haltung zu finden und füllen, in der wir wir selbst sind, ohne uns oder anderen damit zu schaden.
Sei es nun Monogamie, Polyamorie oder eine andere Lebensweise… Es kann sein, dass wir uns die Frage stellen müssen: Welche Bedürfnisse sind so wichtig, dass der Erfüllung möglicherweise andere Wünsche zum Opfer fallen?
Leicht ist das mit Sicherheit nicht immer; dafür geht es aber im besten Falle mit Selbstliebe und Fürsorge einher. Eine Chance, authentisch wir selbst und transparent und liebevoll zu anderen zu sein – völlig gleichgültig, welche Lebens- und Liebesform wir letztendlich wählen.
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